
Lebenszeichen
Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seit ich meine letzten Zeilen für unseren Reiseblog geschrieben habe. Was für eine Ewigkeit! So oft hatte ich in den letzten Jahren das Gefühl, dass die Zeit und das Leben einfach an mir vorbei rinnen und ich fleißig meinen Routinen folge. Sehr glücklich und zufrieden… aber lebendig? Die Jahre schienen immer und immer schneller vorbei zu sein, als würde ich im Autopilot durch mein leben laufen. Und nun schaue ich zurück auf unsere Reise und kann nicht glauben, dass all das was wir erlebt haben erst vor einem Jahr begonnen hat. WOW!
Was ist passiert in den letzten Monaten, was mag ich teilen?
Wir sind nicht viel gereist seit unserer Ankunft in Portugal. Durch meinen Freund Jo sind wir im Januar bei dem Gemeinschaftsprojekt SerVivo (Lebewesen oder lebendiges Wesen oder „sei am Leben“, www.servivo.earth) gelandet und direkt tief tief eingetaucht. Zwei Nächte wollten wir bleiben, fünf Monate sind es geworden. Fünf Monate voller Freude, Lebendigkeit, Bewegung, Arbeit und Freundschaft aber auch Traurigkeit, Zweifel und Distanz. Es gibt die weisen Worte: „Wenn du dich für erleuchtet hälst, dann geh und verbringe eine Woche mit deinen Eltern“. Da meine diese Zeilen vermutlich lesen werden, ich liebe euch und unsere gemeinsame Zeit! Was für den einen die Familie ist, ist für mich die „Community“!
So viele schöne Erfahrungen und Geschenke und so unfassbar viele Trigger!
Wenn ich manchmal meine Gedanken beobachte, habe ich das Gefühl auf einem Pulverfass voller Wut zu sitzen. Es gibt NIX was mein genialer Geist nicht umgehend mit klugen Gedanken und Ratschlägen kommentiert. Alles wird be- und ganz schnell auch verurteilt.
Ich bin der, der das Leben verstanden hat und immer alles richtig macht und der Rest hat keine Ahnung. Das erste Mal, dass ich diese Gedanken so klar „ausspreche“. Was für eine Arroganz.
Ich bin während unserer Reise so oft damit beschäftigt, Menschen die ich in eine Schublade gesteckt habe, aus dieser wieder heraus zukramen um mich dann frei und neugierig auf sie einzulassen.
Nach kurzer Eingewöhnungsphase an diesem neuen Ort bin ich schnell total verliebt in das Projekt und in die Möglichkeiten, wie ich mich hier einbringen kann. Die Community ist in dieser Zusammensetzung noch ganz ganz jung und im stetigen Wandel. Es gibt viel zu tun und ich liebe es, wenn ich mich einbringen kann. Im Handumdrehen bin ich der neue Handwerker auf dem Platz und darf viele schöne Projekte realisieren. Ohne es zu merken, tappe ich in eine alte Falle. Da ich so gerne helfen möchte und ein ungeduldiges Wesen bin, verliere ich bald das Gefühl für meine körperlichen und geistigen Grenzen und verausgabe mich zwischen der körperlichen Arbeit vor Ort, meinen digitalen Projekten und dem klaren Wunsch, eine wache und lebendige Beziehung zu leben.
Die ersten drei Monate sind vorbei, die rosarote Brille, mit der ich das Projekt bewundert habe, ist abgesetzt und meine wachsende Müdigkeit lässt erste Zweifel aufkommen. Wie auch in Liebesbeziehungen, beginnt nun das wahre Kennenlernen. Dinge über die ich Anfangs mit einem Lächeln hinwegsehen konnte, triggern mich plötzlich enorm. Ich habe so klare Visionen über das zusammenleben mit anderen Menschen und so viel große Ideen, doch die Realität lässt mich an Ihnen zweifeln.
Dann ergibt sich eine Situation in der das Kernteam (5 Menschen) sich eine Auszeit gönnt um sich zu sammeln und auch noch mal tiefer zu verbinden. Die freiwilligen Helfer (ca. 10 mit uns) bleiben vor Ort und haben „Urlaub“. Es gibt Nichts zu tun außer den Platz in einer gewissen Grundordnung zu halten. Da die vergangenen Wochen für alle sehr intensiv waren freuen wir uns auf eine Pause.
Und doch regt sich in mir die Idee, diese Zeit ohne feste Struktur zu nutzen, um die Vision in meinem Kopf in der Realität zu prüfen. So versuche ich also, in unserem Morgenmeeting des ersten Urlaubstages etwas in Worte zu fassen was sich eigentlich mit Worten nicht beschreiben lässt.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in einer wachen Gemeinschaft zusammen leben und wirken können ohne uns zu überanstrengen, ohne Zeitpläne und zu enge Strukturen. Wenn jeder Mensch in der Gemeinschaft weiß, dass alles, was wir einbringen die Gemeinschaft und damit jedes Individuum stärkt, wird aus dem Gefühl der Verpflichtung das Gefühl von Dazugehörigkeit. Wenn wir unsere eigenen Fähigkeiten und die der Anderen erkennen und fördern, kommen wir aus dem Gefühl der Arbeit in das Gefühl, unserer Bestimmung zu folgen. Aus der Frage, "wann kann ich endlich aufhören?" wird die Frage, "wann darf ich endlich weiter machen?".
Mit voller Hingabe versuche ich also meine Vision zu vermitteln und das auch noch in Englisch und läute damit, ohne es zu wissen, den Beginn einer wahrlich magischen Woche ein.
Wir führen Gesprächsrunden ein um die Gemeinschaft zu stärken. Anstatt, wie so oft in meinem Leben, wegzulaufen, gehe ich tiefer rein in die Verbindung und öffne mich den Menschen und Situationen die mich so herausfordern. Die täglich anfallenden Aufgaben erledigen sich wie beiläufig da wir nicht den Druck haben, etwas abarbeiten zu müssen sondern uns einbringen zu können. In nur fünf Tagen wachsen wir so eng zusammen wie es keiner von uns für möglich gehalten hat. Wir sind zu einer kleinen Familie geworden und sind ganz selbstverständlich für einander da.
Auch wenn es nicht möglich war, die Schönheit dieser Erfahrung in den darauffolgenden Wochen in den Alltag von SerVivo zu integrieren, so haben wir uns viele kleine Rituale beibehalten und etwas erfahren, was keiner von uns so schnell wieder vergessen wird.
Für mich war es eine der größten Herausforderungen seit Beginn unserer Reise und gleichzeitig das schönste Geschenk, für diese fünf Monate Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Gemeinsam zu arbeiten, zu kochen, zu essen, zu leben und zu wachsen.
Mir wird mehr und mehr klar, es braucht für mich so wenig um mich lebendig zu fühlen. Einen Ort an dem ich wirken kann und der durch mein Wirken zu einem schöneren Ort wird. Wenn ich dann auch noch Anerkennung für mein Wirken bekomme, vergesse ich Zeit und Raum und tauche voll in mein Tun ein.
Danke SerVivo und danke DIR, für das Lesen dieser Zeilen
Robert
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